Ihr Beruf: Stadtteilpolizistin. Das Viertel: St. Pauli. Seit 2003 ist Margot Pfeiffer auf den Straßen unterwegs – aber nicht mehr lange. Ein Rundgang durch ein Gebiet, in dem nur der Wandel konstant ist.
Frau Pfeiffer mag Menschen. Sie mag die Kinder, die auf St. Pauli mit einem Fußball unter dem Arm durch die Wohnstraßen rennen, die Gestrauchelte, die auf der Reeperbahn ins Leere starrt, die Damen, die an der Ecke der Davidstraße stehen und die Herren, die zu Besuch kommen, die türkischen Ladenbesitzer, die Touristen aus dem Rheinland, die nach dem Weg fragen und das schwer tätowierte Pärchen, von dem sie gerade angesprochen wird, weil ein Nachbar mal wieder Ärger macht. Frau Pfeiffer ist das Ohr und das Auge von St. Pauli – und vermutlich auch so etwas wie das Herz in Uniform. Seit 1982 ist die 59-Jährige in verschiedenen Positionen auf dem PK 15, besser bekannt als Davidwache, tätig. Seit 2003 als Bürgernahe Beamtin, kurz „BüNaBe“. Eine lange Zeit. Ende des Jahres geht sie in den Ruhestand, vermutlich wird sie noch ein Jahr verlängern, aber dann ist wirklich Schluss. Ein St. Pauli ohne Frau Pfeiffer ist schwer vorstellbar.
Doch bis dahin geht Frau Pfeiffer als eine von vier Bürgernahen Beamten auf ihre Tour. So wie an diesem Nachmittag. „Das ist die beste Polizistin hier! Und die freundlichste!“ ruft ein junger Mann von der anderen Straßenseite herüber. „Hier“, das ist ein winziger Bereich. Das Reviergebiet der Davidwache ist mit nur 0,92 km² und etwa 14.000 Einwohnern das kleinste Europas, der Bereich darin, für die ausschließlich Frau Pfeiffer zuständig ist, erscheint winzig. Gerade im Verhältnis zu den Sorgen, die sich hier türmen. St. Pauli ist ein sozial schwacher Stadtteil – und daran hat sich über die Jahrzehnte nicht sonderlich viel verändert. 1983 begann Margot Pfeiffer als Praktikantin auf der Davidwache. Sie kennt das Viertel, als die Reeperbahn noch eine harte Rotlichtmeile war und das »Poussieren« noch als Kunst galt. Damals trugen die Kiezgrößen noch Spitznamen wie „Der schöne Klaus“, „Albaner-Toni“ oder „Karate-Tommy“, fuhren Rolls-Royce und Lamborghini. Schießereien waren keine Ausnahme. Frau Pfeiffer erlebte den Niedergang der berüchtigten Zuhälter-Truppe GmbH und der Nutella-Bande, die Schicksale und Tragödien – und den Wandel zur Ausgehmeile.
Heute ist St. Pauli eine Touristen-Attraktion. An einem normalen Wochenende kommen bis zu 40.000 Besucher, viele mit dem Billigflieger aus England. Zu jeder Zeit winden sich geführte Touristen-Gruppen wie Tausendfüßler über die Große Freiheit und am Kiez entlang. Dazu kommen Großveranstaltungen wie die Harley Days oder der Schlagermove, der den Bezirk in eine Kloake verwandelt. Und als ob das nicht reichen würde, kämpft St. Pauli mit der Gentrifizierung, den steigenden Mieten. Es ist wie ein Ausverkauf der sündigen Meile. Oder von dem, was sich die Leute darunter vorstellen. „Ich finde Gentrifizierung bis zu einem gewissen Maße nicht per se schlecht“, sagt Frau Pfeiffer diplomatisch. Und fügt hinzu: „St. Pauli hat sich verändert, aber die Menschen ja nicht.“
Empfindlich reagiert sie, wenn es um das Thema Menschenwürde geht. Auf dem Weg zum Hein-Köllisch-Platz erzählt sie von einem Mann, der das Wort „Gesindel“ benutzte und dem sie sagte, dass er sich eine neue Ansprechpartnerin suchen dürfe, wenn er das nochmal sagt. Mit einem Mal sind die Lachfältchen, die man an ihr als erstes bemerkt, verschwunden und das Blau der Augen sehr kühl. Dann geht sie weiter und ruft einem Mann vor einer Kneipe zu, er solle keinen Schnaps trinken. „Den verträgt er nicht“, erklärt sie und berichtet, wie sie den 1,90-Mann einmal in den zweiten Stock bis zu seiner Wohnung hievte, weil er ihren Rat und den Weg nach Hause vergessen hatte. Ein paar Minuten später kommt eine Frau im Rollstuhl auf Frau Pfeiffer zu und klagt ihr Leid – der Hund ist operiert worden. Frau Pfeiffer hört zu. Sie hört dem jungen Mann zu, der eine wirre Geschichte über seinen verschwundenen Großvater erzählt, sie hört zu, als ein Viertelbekannter Obdachloser darüber klagt, dass man seine Sachen gestohlen hätte. Er trägt nur eine Unterhose, Mütze und Sonnenbrille. „Der ist abwechselnd auf der Täter- und auf der Opferseite“ kommentiert Frau Pfeiffer trocken im Weitergehen. Die Polizei mag Freund und Helfer sein – aber ein besonders übersteigertes Helfersyndrom hat Frau Pfeiffer nicht. Sie blickt einem kleinen Mann hinterher, der offenbar nicht viel Glück im Leben hatte und wieder rückfällig geworden ist, wie sie meint. „Man kann nicht jeden retten.“
In der Antonistraße trifft sie auf Sieghard Wilm. Seit 2002 ist er Pastor an der St. Pauli Kirche zwischen Reeperbahn und den Landungsbrücken. Man kennt sich natürlich. „Frau Pfeiffer hat sich ihre Menschlichkeit bewahrt“, sagt der 53-Jährige über die Polizistin. Die untergehende Sonne scheint zwischen den beiden hindurch. Bei der Frage, ob die beiden nicht einen ähnlichen Job haben, zögert der Geistliche. „Ja, das schon. Aber ich habe keine Handschellen.“ Frau Pfeiffers Antwort fällt kurz aus: „Die brauche ich eigentlich auch nicht.“
Wozu auch. Frau Pfeiffer nimmt nicht fest, sie nimmt sich Zeit. Für jeden Touristen, der etwas verloren in der Gegend herumsteht und dessen Ratlosigkeit sie auf 50 Meter wittert. Für jedes Kind, das von ihr mit der Frage: „Na, wo kommst Du denn her?“ begrüßt wird. Schlechte Laune kennt die gebürtige Hessin nicht. „Ich bin ein lebenslustiger Mensch“ sagt sie über sich und amüsiert sich ein wenig später über die Raffinesse der Damen, die in der Herbertstraße tätig sind. Noch tätig sind – wie man sagen muss. 1300 Damen haben mal auf St. Pauli gearbeitet. Heute sind es vielleicht 350. Alle anderen sind vermutlich im Internet zu finden. Die Zahl der Menschen, deren Realitätssinn ein bisschen verrutscht ist, scheint allerdings konstant zu bleiben. Viele kommen für eine Weile ins Viertel und verschwinden wieder, andere wohnen dauerhaft auf St. Pauli. So wie die Frau, die von Frau Pfeiffer ab und an mit ihrem Funkgerät entstrahlt werden möchte. Bei der Frage, ob ihr sie auch mal in Gefahr geraten ist, lacht sie. „Ich habe mich niemals so gefühlt.“ Und als Frau? Gab es da mal Probleme? Frau Pfeiffer winkt ab. Warum das so ist, erkennt man, wenn man die Polizeihauptkommissarin dabei beobachtet, wie sie über die Reeperbahn geht. Die Menschenmenge teilt sich vor der Frau in Uniform wie das Rote Meer, wer ihr zu nahekommt, wird im Polizei-Jargon auf Distanz gehalten.
Bremsen quietschen, Autos hupen, Menschen schreien auf. Eine schmale Person ist mitten in den fließenden Verkehr der vierspurigen Reeperbahn gelaufen, gleitet wie ein Geist durch die Fahrzeuge hindurch und verschwindet wieder in einer Nebenstraße. Eine Frau ist darüber zu Tode erschrocken, kommt auf die Bürgernahe Beamtin zu und beschimpft sie wüst: „Da müssen Sie doch was machen, Sie können doch nicht einfach so zusehen!“ Fünf Minuten später ist alle Aggression verflogen, Frau Pfeiffer hat den Arm um die nun weinende Frau gelegt und tröstet sie. „Es hilft, dass ich vielleicht auch etwas Mütterliches ausstrahle“, sagt die Bürgernahe Beamtin und lächelt. Wer wird ihre Rolle einnehmen, wenn sie aus dem Beruf geht? „Jeder ist ersetzbar“, entgegnet Frau Pfeiffer und zuckt mit den Schultern. Was hatte sie vor ihrer Runde gesagt? „St. Pauli ist wie ein großes Puzzle. Aber es ist nie vollständig, es kommen immer wieder Teile abhanden und neue hinzu.“ Wobei das Bild dann nie wieder das sein wird, das es einmal war. Nur die Nostalgie, die bleibt St. Pauli wohl immer treu.
Autorin: Wiebke Brauer
Bilder: Michael Nehrmann