Der Berliner Winter lässt die ohnehin schon so pulsierende Hauptstadt noch etwas hektischer werden. Bei unfreundlicher Witterung nimmt sich ein Bus Zeit für Menschlichkeit.

Mitten in der Masse aus hochgeklappten Kragen und eiligen Schritten steht ein Mann bewegungslos am Hauptbahnhof. Dick in seine fleckige, rote Daunenjacke gehüllt, sticht die kleingewachsene Erscheinung aus der Menge heraus und scheint doch unsichtbar. Als er schließlich anfängt, laut, mit all seiner Kraft um Hilfe zu brüllen, zieht er einige verstohlene Blicke auf sich. Stehen aber bleibt lange Zeit niemand. Einer der Passanten tut es schließlich – und wählt die 690 333.

Leben retten seit 1994

„Kältebus der Berliner Stadtmission. Denis am Apparat“, brummt es warm und sympathisch in der Lehrter Straße 68. Es ist kurz nach 21 Uhr, der Kältebus hat vor wenigen Sekunden seine Arbeit aufgenommen. Denis schwingt sich auf den Beifahrersitz. Neben ihm lässt Matze den Motor an.

Als der Kleinbus nur wenige Minuten später am Hauptbahnhof hält, sind die Hilferufe des Mannes bereits aus der Ferne zu hören. „Das ist bestimmt Olaf, die Stimme erkenne ich“, ist sich Denis beim Aussteigen sicher. Er kennt viele der obdachlosen Menschen in Berlin, ihre Namen, ihre Geschichten. Seit sechs Jahren sitzt er auf dem Beifahrersitz des Kältebusses, der seit 1994 von Anfang November bis Ende März nach hilflosen Wohnungslosen sucht.

Lebensretter seit 1994: der Kältebus der Berliner Stadtmission

Zuflucht für alle

Olaf, der noch immer schreit, ist stark hörgeschädigt, eingeschränkt in seiner geistigen Fähigkeit – Er weiß nicht, wo er ist oder wie er dort hingekommen ist. In diesem Moment weiß er nur eines: „Lehrter Straße! Ich will in die Lehrter Straße!“ Denis kann ihn mit unaufgeregter Stimme und einer Hand auf seiner Schulter beruhigen. Mit angedeuteter Irokesenfrisur, der Weste, die der 47-Jährige trotz der Witterung offen trägt, und dem grauen Sweater, der sich über seinen Bauch spannt, kommt er gut an. Olaf nimmt widerstandslos auf einem der sechs Autositze Platz.

Die Notunterkunft der Stadtmission in der Lehrter Straße in Berlin-Mitte ist die niedrigschwelligste der Hauptstadt. Jeder ist willkommen, ausnahmslos: Frauen, Männer, Familien, Menschen mit oder ohne Hund, auch Alkohol- und Drogenabhängige. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan!“ So das inoffizielle Motto, ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium. Sechs feste und 80 ehrenamtliche Mitarbeiter helfen hier den Gästen, die in der kalten Jahreszeit durch den Eingang drängen. Die Hilfesuchenden sind hier keine Obdachlosen, keine Penner, sondern Gäste. Während Olaf einer von ihnen wird, sind Denis und Matze längst wieder auf der Straße.

Versteckt in dunklen Ecken

Weitere Notrufe von Passanten, Krankenhäusern, Sicherheitskräften und der Polizei erreichen das Zweiergespann. „In normalen Winternächten sind es zwischen 30 und 90 Anrufe. Aber es gab auch schon Nächte mit minus 19 Grad. Da waren es schnell 140“, erinnert sich Matze. Mit Bomberjacke, tief ins Gesicht gezogener Kapuze und Tattoos bis auf die Fingerknöchel manövriert der 35-Jährige den blauen Transporter sicher durch die dunklen Straßen. Tagsüber betreut der Sozialarbeiter auf dem Gelände der Stadtmission eine Gruppe nicht abstinenzfähiger Menschen, beinahe täglich ab 21 Uhr kümmert er sich um jeden, der es nicht mehr alleine durch die Nacht schafft.

Der Bus biegt in einen schmalen, kaum beleuchteten Weg in Schöneberg ein. Emotionslos heruntergeschnittenes Gestrüpp auf der einen, eine kalte Backsteinwand auf der anderen Seite; nicht gerade Berlins schönste Ecke. In Mitten von leeren Flaschen, Tüten und Taschen sind Umrisse eines Schuhs zu erkennen, der aus den verschiedenen Decken und Schlafsäcken herausragt. Hier liegen Menschen auf dem frostigen Boden. „Hallo, wir sind vom Kältebus. Ist alles okay bei euch? Können wir euch helfen?“, nähert sich Denis behutsam an, bis irgendwann jemand antwortet.

Alle Ampeln auf grün – leider

„Alles gut“, ist in gebrochenem Deutsch zu hören. Zwei Männer, vor über 20 Jahren aus Polen nach Berlin gekommen, schälen sich allmählich aus ihrem Nachtlager. Der warme Tee und die trockenen Schlafsäcke, die Denis ihnen anbietet, sind eine willkommene Abwechslung. Mit der Aussicht auf ein sicheres Nachtquartier steigen auch sie schließlich in den Kältebus.

Der Weg führt aus Schöneberg hinaus, entlang der Hochbahn in Kreuzberg, zwischen Spätis und Kneipen hindurch, vorbei am munter werdenden Berliner Partyvolk in den Friedrichshain. Für die beiden Passagiere auf der Rückbank kann die Fahrt gar nicht lang genug sein. „Schade, dass alle Ampeln grün sind“, bedauert einer der beiden, der sich beim Einsteigen noch so über Nirvanas „Come as you are“ im Radio gefreut hat. Doch an der Traglufthalle unweit des Bahnhofs Frankfurter Allee ist für sie Schluss. Hier wartet ein warmes Bett auf sie.

Die Aussicht auf ein warmes Bett zaubert den beiden ein Lächeln ins Gesicht.
Die Aussicht auf ein warmes Bett zaubert den beiden ein Lächeln ins Gesicht.

„… dann habe ich das Saufen angefangen“

Am Ende einer langen Nacht und vielen weiteren Notrufen ist die Schlosspark-Klinik im Stadtteil Charlottenburg das letzte Ziel für den Kältebus. Neben dem besten Automaten-Kakao der Stadt wartet dort Marinus. Bei ihm wurde ein Alkoholwert von 4,5 Promille festgestellt. Während dies für „normale“ Menschen Lähmungen, Koma oder den Tod bedeuten würde, bewegt sich der neue Fahrgast weitestgehend sicher auf den Kältebus zu.

Das vom Alkohol aufgequollene Gesicht ist umrahmt von strähnigem Haar, die speckige Lederjacke schlackert an seinem dünnen Körper. Auf der Fahrt zur Lehrter Straße ist lange Zeit nichts von dem Mann zu hören. „So ist das eben“, beginnt Marinus dann doch zu reden, den Blick auf seinen Schoß geheftet. Zunächst nur sehr schwer zu verstehen, gewinnt seine Stimme zunehmend an Kraft: „Meine Mutter ist gestorben, meine Freundin ist gestorben. Dann habe ich das Saufen angefangen. Ich bin ganz allein.“

„Das ist ein Teufelskreis“

Schicksalsschläge, Krankheiten, eine Fehlentscheidung zu viel: der Weg kann nach wenigen falschen Abbiegungen in der Obdachlosigkeit enden. Die allgemeine Annahme, niemand in Deutschland müsse auf der Straße leben, stimme nur auf dem Papier. „Natürlich wohnen manche freiwillig auf der Straße. Aber es gibt auch die, die keine Wohnung für das vom Staat zur Verfügung gestellte Geld finden. Ohne Wohnsitz kein Job. Und ohne Job keinen Wohnsitz. Das ist ein Teufelskreis“, erklärt Denis mit einem frustrierten Lachen durch die Nase. Zu oft sieht er sich mit diesen Vorurteilen konfrontiert.

Marinus benötigt die Hilfe von Matze und Denis, um sicher auszusteigen

Die Reifen des Kältebusses kommen vor der Stadtmission zum Stehen, der Stundenzeiger hat die drei längst überschritten. „Wenn es den Kältebus nicht geben würde…“, verabschiedet sich Marinus, ohne den Satz zu beenden. Vielleicht hat er es vergessen, vielleicht will er es sich auch gar nicht vorstellen.

6000 Obdachlose in Berlin

Hunger und Kälte sind in dieser Nacht nicht mehr sein Problem. Doch schon morgen wird er – gemeinsam mit Olaf, den beiden Polen aus Schöneberg und 6000 weiteren Obdachlosen – wieder den Straßen der Hauptstadt leben.

Auch Matze und Denis werden mit dem Kältebus die Nächte hindurch fahren und erneut versuchen, so viele wie möglich von ihnen vor dem Erfrierungstod zu retten.

 


Text: Leon Strohmaier

Fotos: Sven Wedemeyer

Die Berliner Stadtmission finanziert sich überwiegend aus öffentlichen Zuschüssen und Spenden. Wenn Sie die Arbeit von Denis, Matze und den unzähligen anderen ehren- und hauptamtlichen Helfern unterstützen möchten, finden Sie hier weitere Informationen.

SPENDENKONTO der Berliner Stadtmission

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Verwendungszweck: Kältehilfe