Eine neue ADAC-Studie zeigt: Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind mit ihrer Mobilität insgesamt zufrieden, fühlen sich aber abgekoppelt. Wie das zusammenpasst, zeigt ein Ortsbesuch.
Wenn Ingo Zabel mitbekommt, dass jemand „seinen“ ILSE-Bus, mit dem er den ÖPNV auf dem Land umkrempeln will, als „Anrufsammeltaxi“ bezeichnet, schreitet er ein: „So würde ich das wirklich nicht nennen“, sagt der Geschäftsführer der kommunalen Verkehrsbetriebe Vorpommern-Greifswald (VVG) dann streng. ILSE sei etwas ganz anderes: „ILSE ist die Zukunft und das Anrufsammeltaxi ist eher die Vergangenheit.“ Anrufsammelverkehr ist schon seit langem so etwas wie der letzte Überrest des ÖPNV in ländlichen Orten – ein Kleinbus oder sogar nur ein Taxi, mit einem festen Fahrplan wie ein Linienbus, der aber nur fährt, wenn der Fahrgast die Fahrt vorher telefonisch anmeldet.
„Das ist nicht besonders sexy“, sagt Zabel: „Die Akzeptanz bei den Fahrgästen für solche Modelle ist im Grunde seit ihrer Einführung gering.“ Zu unflexibel sind die Angebote, zu selten die Fahrtzeiten.
Der ILSE-Bus, ein schmucker Kleinbus, soll anders sein, denn er bricht grundsätzlich mit dem alten Konzept vom Linienverkehr: Es gibt keinen Fahrplan und es gibt keine festen Linien. Wer das Angebot nutzen will, gibt seine Start- und Zielhaltestelle und die gewünschte Abfahrtszeit per Anruf oder App durch. Anschließend berechnet eine Computer-Software in Echtzeit einen „dynamischen“ Fahrplan für den ILSE-Bus. Der Fahrer erfährt seine Route vom Navi, das mit dem Fahrplan-Computer vernetzt ist: Er weiß zu Beginn seiner Fahrten selbst noch nicht, wie die genaue Route sein wird. Der Kunde wiederum erhält wenige Augenblicke nach seiner Anmeldung die Mitteilung, zu welcher exakten Minute der Bus an seiner Haltestelle eintrifft und wie lange die Fahrt ungefähr dauern wird: „Die Flexibilität dieses Angebots ist mit ÖPNV, wie wir ihn bisher kennen, nicht zu vergleichen“, sagt Dirk Zabel. Werktags von 8 bis 18 Uhr rollen die Busse auf einer Fläche, die ungefähr halb so groß ist wie das Stadtgebiet von Berlin, auf der aber nur etwa 20.000 Einwohner leben.
Dass diese Menschen vom ÖPNV schlicht nicht mehr erreicht werden, zeigte kürzlich auch die ADAC-Studie „Mobil auf dem Land“: Nirgends in Deutschland gaben mehr Befragte an, sie wünschten sich mehr Fahrdienst- und Mobilitätsangebote auf dem Land. Gleichzeitig waren die Befragten in keinem anderen deutschen Bundesland insgesamt so zufrieden mit ihrer Mobilität. Für Ingo Zabel ist das kein Widerspruch: „Die Menschen hier haben sich vom ÖPNV weitgehend verabschiedet, er kommt im öffentlichen Bewusstsein gar nicht mehr vor.“ Einer der Sätze, die er in dem Jahr, in dem der ILSE-Bus nun schon gibt, häufig gehört hat, lautet: „Dann muss ich ja gar nicht mehr meinen Enkel fragen, ob er mich fährt!“ Der ILSE-Bus verhelfe einer Zielgruppe zu neuer Mobilität, die bisher auf Verwandte, Nachbarn oder teure Taxen angewiesen war. Denn, das ist aus Kundensicht vielleicht das beste am ILSE-Bus: Der Fahrpreis ist derselbe wie im Linienbus. Wer nicht bis zur Bushaltestelle, sondern bis zur Wunschadresse gebracht werden will, zahlt einen Euro Aufpreis. „Wie Taxifahren, nur günstiger“, lautet deswegen einer der Werbesprüche, mit denen die VVG für Ilse wirbt.
Haben Ingo Zabel und seine VVG also aus der Not heraus den ÖPNV der Zukunft erfunden? Ganz so weit würde selbst Zabel noch nicht gehen: „Ich glaube, das Konzept hat unglaubliches Potential. Aber natürlich muss es sich erst einmal herumsprechen.“ Nach einem Betriebsjahr wickelt der ILSE-Bus ungefähr 250 Fahrten im Monat ab, das sind kaum mehr als zehn pro Werktag. „Die Nutzungszahlen sind stark steigend, aber wir müssen das Konzept erst einmal bekannt machen.“ Dafür brauche es einen langen Atem.
Zabel verweist darauf, dass ähnliche Angebote wie der ILSE-Bus derzeit fast nur im großstädtischen Bereich getestet werden: So sei etwa der „Berlkönig“ der Berliner BVG technisch gesehen genau dasselbe wie der ILSE-Bus. Auch die Deutsche Bahn und Volkswagen testen derzeit Angebote, bei denen der Kunde nur Start, Ziel und Fahrtzeit meldet und dann per Kleinbus chauffiert wird.
Wer in Berlin einen Berlkönig-Bus nutzt, macht dabei dieselbe Erfahrung, die Zabel derzeit mit dem ILSE-Bus macht: Die überwiegende Zahl der Fahrten sind Einzelfahrten, der Fahrgast ist allein im Bus. Kann sich das wirtschaftlich rechnen? „Ja“, sagt Zabel, denn die Busse fahren schließlich nur, wenn sie von mindestens einem Fahrgast gebraucht worden. Das sei schon mal ein Fortschritt: In seinen VVG-Linienbussen sitze mitunter nicht ein einziger Fahrgast: „Die Betriebskosten sind deswegen geringer, als viele im ersten Moment denken“, sagt Zabel. Trotzdem lässt sich die VVG das ILSE-Projekt einiges kosten – die Rechnung zahlt letztlich der Landkreis Vorpommern-Greifswald: „Wir bekommen aktuell keinen Cent Fördergeld von Land, Bund oder EU“, klagt Zabel.
Dass es gerade in seinem Bundesland so wenig Unterstützung für Mobilität auf dem Land gibt, was die Bürger auch in der ADAC-Studie anprangerten, findet Zabel „in zunehmendem Maße unverständlich. Wir sind nicht die einzigen, die in Mecklenburg-Vorpommern gute Ideen für Mobilität der Zukunft haben. Aber die meisten Ideen werden nicht umgesetzt, einfach weil es fast unmöglich ist, an Fördergeld zu kommen.“ Dabei seien die Fördertöpfe prall gefüllt. Wenn der Landkreis nicht irgendwann gesagt habe „Wir lassen den ILSE-Busse jetzt fahren, egal was passiert“, wäre das Projekt womöglich nie ins Rollen gekommen, sagt Zabel. Sein Chef, Landrat Michael Sack (CDU), der selbst im ILSE-Bediengebiet wohnt, ergänzt: „Für uns ist ILSE ein integraler Bestandteil unserer Anstrengungen rund um die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum.“
Dass der Rückhalt aus der Politik so gering sei, hält Zabel für fahrlässig: „Auf diese Weise vergeuden wir wertvolle Jahre, in denen die Verkehrswende noch gestaltet werden könnte.“ Denn immer mehr Menschen würden Angebote jenseits des eigenen Autos brauchen – vor allem Senioren, die nicht mehr Auto fahren können, aber auch die junge Generation, die aus Prinzip Wert auf Mobilität ohne eigenes Auto legt.
A propos eigenes Auto: Hand aufs Herz, Herr Zabel – glauben Sie, dass ihre Busse eines Tages das eigene Auto in Mecklenburg-Vorpommern ersetzen werden? „Nein. Der motorisierte Individualverkehr ist in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern immer der Grundbaustein für Fortbewegung. Wer kann, wird hier meistens auch Auto fahren.“ Trotzdem richtet Zabel seine Angebote bewusst nicht nur an Menschen, die nicht (mehr) Auto fahren können, sondern auch an jene, die nicht wollen. Touristen etwa oder junge Menschen, die keinen eigenen Pkw besitzen wollen. Ob seine VVG in zehn oder zwanzig Jahren als Ergänzung zum ÖPNV vielleicht auch Carsharing für den ländlichen Raum anbietet? „Wenn Sie sich da mal nicht verschätzen“, sagt Zabel: „Bei der Mobilität ist gerade so viel in Bewegung. Vielleicht ist es sogar schon in ein paar Jahren so weit.“
Bis dahin will Zabel zunächst einmal seinen ILSE-Bus etablieren und am liebsten aufs gesamte Land ausweiten – mit Pioniergeist und langem Atem. „Der ÖPNV der Zukunft entsteht nicht in der Großstadt, sondern auf dem Land“, sagt er. Auch wenn man dort nun einmal fast bei Null anfangen müsse.
Autor und Fotos: Gabriel Kords