Das Grenzhaus in Schlagsdorf bietet Fahrradtouren entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze mit Zeitzeugen an. Dabei verbindet sich Urlaub mit Geschichte.

„Wenn wir hier vor 31 Jahren gestanden hätten, wären wir jetzt wahrscheinlich tot“. Ich muss schlucken. Wolfgang May fährt ungerührt fort. „Dort hinten stand ein Grenzturm und genau hier, wo ich stehe, war ein Zaum mit Selbstschussanlagen. Wenn man fliehen wollte, brauchte man vor allem eines: Unglaubliches Glück“.

Wolfgang May an seinem alten Arbeitsplatz. Auf der anderen Seite des Malchower Sees lag die DDR.

Mein Tourguide schweigt, während ich die Umgebung betrachte. Nur das Rauschen der Blätter und das Rufen eines Kuckucks sind zu hören. Heute ist hier nichts mehr von der ehemaligen Grenze zu sehen. Die Natur hat das Gebiet zurückerobert und lässt die Geschichte unter Grün verschwinden. Umso wichtiger ist es, dass Erinnerungen wach gehalten werden. Von Menschen wie Wolfgang May. Der ehemalige Leiter des Sachgebietes Sicherheit beim Bundesgrenzschutz nutzt seine Zeit als Rentner, um bei Fahrradtouren das Vergangene lebendig zu machen.

Die Fahrradtour bietet nicht nur historische Infos, sondern auch herrliche Naturerlebnisse

Vom Grenzhaus in Schlagsdorf sind wir vom ehemaligen Gebiet der DDR auf einem Feldweg Richtung Grenze gefahren. Diese war deutlich komplexer, als ich es mir im Geschichtsunterricht vorgestellt habe. Um früher in die vorgelagerte, fünf Kilometer lange Sperrzone vor der Grenze zu gelangen, hätten wir Angehörige im Dorf, eine Anmeldung vier Wochen im Voraus und spezielle Passierscheine benötigt. „Wer hier gelebt hat, musste sein Fahrrad nie abschließen. Überall Militär“, erzählt May.

Infotafeln entlang der Strecke informieren auch Radfahrer, die sich alleine aufmachen

Heute radeln wir ungehindert weiter bis zum 500 Meter breiten Schutzstreifen. Wir stellen die Fahrräder am Rande eines Feldweges ab. Wolfgang May holt ein Blatt Papier aus seinem Rucksack. „Tagesprotokoll 26.4.1976“ steht darauf. Zur Zeichnung der Grenze wurden zahlreiche handschriftliche Notizen hinzugefügt.

Früher lebensgefährlich, heute unauffällig: Der Schutzstreifen

Aus Punkten, Pfeilen und  Uhrzeiten entsteht eine Verfolgungsjagd.
„Um 1:40 Uhr wurde an diesem Zaun Alarm ausgelöst“, sagt May, während der die Strecke des Flüchtlings mit dem Finger nachverfolgt. „Acht Minuten später war ein LKW vor Ort. Da ist er aber schon ein ganzes Stück weiter gelaufen, parallel zur Grenze. Er hat eine Stelle gesucht, an der der Zaun einen spitzen Winkel hat, damit er leichter darüber klettern konnte“. Auf der Karte endet die die Linie an einem Punkt vor der Grenze. Hat der Flüchtling überlebt?

Er schaffte es über die Grenze. Völlig verdreckt und erschöpft, aber unversehrt wurde er noch am selben Abend vom Bundesgrenzschutz in die Kaserne gebracht. „Zur Beruhigung haben wir die Leute immer erst einmal erzählen lassen. Dann haben wir ein Bett organisiert. Geschlafen hat da aber keiner. Am nächsten Morgen gab es Frühstück und eine Befragung“. Neu eingekleidet ging es anschließend nach Gießen ins Aufnahmelager, wo ein Personalausweis ausgestellt und das weitere Vorgehen besprochen wurde.

Heute problemlos möglich: Der Grenzübertritt

20 Flüchtlinge in fünf Jahren hat Wolfgang May erlebt. Ihre enorme Euphorie, es über die Grenze geschafft zu haben. Ihre Hoffnung, nun ein besseres Leben beginnen zu können. Einmal kam eine ganze Familie mit zwei Kindern an. All das erzählt May, während wir unsere Rundfahrt um den Mechower See fortsetzen. Unser Grenzübertritt verläuft unspektakulär: Über die immer noch im Boden eingelassene Grenzlinie fahren wir problemlos an den alten Arbeitsplatz meines Guides.

Gerne hätte er bei der Tour auch einen ehemaligen Grenzer aus der DDR dabei, der die Erzählungen aus seiner Sicht ergänzt hätte. Doch es wohnt keiner mehr in der Nähe. Außerdem fürchten einige, dass sie angegriffen werden. Bei Vorträgen im Grenzhaus wurden sie schon häufiger als Mörder beschimpft. Dennoch hofft May weiter auf Freiwillige: „Es macht die Tour einfach runder, wenn beide Seiten erzählen“.

Ein Nachbau der Grenzanlagen in der Nähe des Grenzhus Schlagsdorf macht die Erzählungen greifbarer

Nach etwa zwei Stunden und vielen Geschichten haben wir den See umrundet. In einer ehemaligen Kiesgrube ist ein Freilichtmuseum aufgebaut, das Nachbauten der unterschiedlichen Grenzsicherungen enthält. Hohe Zäune mit Stacheldraht umschließen einen Wachturm. Auf bedrückende Weise wird mir noch einmal klar, wie gefährlich eine Flucht wirklich war. Zwischen den Abwehranlagen erinnert sich Wolfgang May an den Tag der Grenzöffnung  an der B 208 bei Mustin am 12.11.1989. „Wir hatten mit 500 Besuchern aus der BRD gerechnet, es kamen 5.000.
Ich stand mitten in der Menge. Wir begrüßten die Ankömmlinge aus dem Osten. Es war das schönste Fest, dass ich je gefeiert habe“.

Ungehindert fahren wir den letzten Abschnitt der Tour zum Grenzhaus. Im dortigen Museum hängt Mays alte Uniform. Er betrachtet sie wohlwollend. 30 Jahre nach der Grenzöffnung sind die Themen Freiheit und Frieden nach wie vor aktuell. Umso wichtiger ist es, dass Erfahrungen von früher weitergegeben werden, von Zeitzeugen wie Wolfgang May.

Geführte Touren 2019:

Das Grenzhus Schlagsdorf bietet gemeinsam mit der Tourismus-Information Ratzeburg Fahrradrundtouren zwischen Ratzeburg und Schlagsdorf an. Start- und Endpunkt der Touren sind jeweils das Rathaus in Ratzeburg. Die Tourentermine sind auf der Webseite des Grenzhus hinterlegt (s. unten).

Selbstständig unterwegs:

Die im Artikel beschriebene Tour kann auch selbstständig abgelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren werden. Diese .pdf-Datei des Grenzhuses gibt Ihnen die notwendige Übersicht.

Weitere Informationen zum Grenzhus Schlagsdorf
Weitere Informationen zu den Fahrradtouren

Autor und Bilder: Hans Pieper